Christoph Flachmüller, Chriesi genannt, hat gleich beim Aufwachen so ein komisches Gefühl. Pauline hat gestern Abend beschlossen, in ihrer Wohnung zu schlafen, weil sie vergessen hat, ihre Balkonpflanzen zu giessen. Ein spröder Haargummi liegt auf dem Stuhl, wo sie gestern noch miteinander Wassermelone geschlürft und darüber geredet haben, dass Pauline sich eine funktionierende Fahrradklingel kaufen sollte. Chriesi spannt den Haargummi zwischen zwei Fingern, schnuppert daran und ist enttäuscht, dass er nicht nach Paulines Haaren riecht. Er wundert sich, weshalb heute morgen so wenig Zeit bleibt, den Kaffee sitzend zu trinken und das Kalenderblatt zu studieren, das ihm immer einen Spruch mit auf den Weg gibt. Heute, Chinesisches Sprichwort: Obwohl sie nicht einmal hundert Jahre alt werden, bereiten sich die Menschen Sorgen für tausend Jahre.
Der Spruch streift ihn auf dem Weg zum Badezimmer. Chriesi ist zu müde, um sich zu überlegen, ob er zu den Menschen gehört, die sich Sorgen bereiten. Er weiss nur, dass ihm Paulines Mund fehlt, um einen Abschiedskuss für den Tag darauf zu drücken. Also lallt er in den Spiegel, Chriesi, dir wünsche ich einen guten Tag, wankt vor Müdigkeit, putzt sich die Augecken aus und steigt in die streng riechenden Turnschuhe.
Eine Reihe Menschen säumt die Tramhaltestelle. Niemand spricht, niemand lacht und es ist Chriesi, als warteten sie, bis ihnen jemand ihr Schicksal verrät. Chriesi stellt sich dazu. Eine scharfe Lautsprecherstimme schneidet in sein Ohr: Wegen technischer Schwierigkeiten beim Hauptbahnhof fahren die Trams heute in unregelmässigen Zeitabständen. Man bitte um Verständnis und Chriesi wartet auf das „Piep“, welches ihm immer durch den ganzen Körper fährt, das „Piep“ ertönt und Chriesi durchzuckt es auch dieses Mal. Das Tram fährt ein. Auf dem Rücken des Mannes, der vor Chriesi einsteigt, liest er grau auf schwarz: welt unter.
Chriesi findet einen Sitzplatz und lässt seine Müdigkeit vom Wackeln des Trams schaukeln. Wieder die Stimme: Dieses Tram fahre nicht die übliche Strecke, bringe sie aber alle zum Ziel. Hinter ihm hört er eine junge Stimme sagen: Der Bahnhof kracht zusammen.
Chriesi wundert sich, wie gelassen ihn diese Botschaft erreicht. Natürlich. Nach der Wirtschaft jetzt auch noch der Bahnhof. Möglich, dass jemand eine Bombe platziert hat und man sagt einfach, der Bahnhof krache zusammen. Eine Bombe und es ist nur eine Frage der Zeit. Wer von seiner Familie, seinen Freunden hält sich jetzt gerade am Bahnhof auf? Es gibt immer jemanden. Es gibt immer jemanden, der jemand kennt, der… Chriesi zieht den Reissverschluss seiner Jacke zu. Vögel flattern auf, über den Dächern verfärbt es sich grau. Und doch fängt Chriesi an, sich wohl zu fühlen und plötzlich weiss er auch, warum. Das Tram fährt durch Paulines Strasse und tatsächlich, da geht Pauline in ihrer grünen Jacke! Wie immer schreitet sie nachdenklich, doch den Kopf hält sie leicht nach oben, dorthin, wo alles Gute her kommen soll.
Chriesi klopft gegen die Scheibe. In dieser Stadt hämmert niemand gegen Scheiben und laut rufen tut schon gar niemand. Also versucht Chriesi durch einen intensiven Blick Paulines Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber Pauline guckt jetzt in einen Papiersack ihrer Bäckerei, zieht ein Brötchen hervor, strahlt es an und beisst hinein. Da geht seine Liebe. Da geht sie, die er heute anruft, neben der er vielleicht heute und bis zu seinem letzten Tag einschläft. Bis zu seinem letzten Tag. Welt unter. Schnell das Telefon.
„Pauline, ich bin es. Ich habe dich grad gesehen.“
„Chriesi, my Love, wie schön rufst du an. Wie meinst du, du hast mich gesehen?“
„Mein Tram macht heute einen Umweg und fährt durch deine Strasse und da sehe ich dich und du siehst mich nicht und da dachte ich, vielleicht darf ich dich nochmals sehen, bevor die Welt unter geht. Der Hauptbahnhof droht nämlich zusammenzubrechen und irgendwie ist alles merkwürdig heute, die Anzeichen stehen alle auf Weltuntergang, länger schon und ich dachte halt, ach nichts.“
Paulines Stimme klingt hell wie ein Spiel im Wind und beruhigt ihn sofort: „Chriesi, wie stellst du dir überhaupt so einen Weltuntergang vor?“
„Wie ein Haus, das zusammen stürzt. Ein Erdbeben. Eine Lawine. Etwas schnelles, sehr lautes und dann Stille.“
Pauline lacht: „Aber dann brauchst du dich nicht zu fürchten. Wenn die Welt schnell untergeht, merken wir es nicht einmal. Niemand hat mir je erklärt, wie denn die Welt untergeht. Bricht da ein Feuer aus? Gelangt die Welt in eine Atmosphäre, die uns nicht mehr atmen lässt? Alle reden vom Weltuntergang und keiner weiss genau, wie das vor sich gehen soll. Das Schlimme, Chriesi, das wirklich Schlimme sind die langsamen Weltuntergänge. Unsere Welt, aus der plötzlich alle Farbe entwiche, und wir nicht mehr wüssten, ob wir uns lieben.“
Chriesi erschrickt: „Sag doch so etwas nicht.“
Pauline sagt: „Aber das wäre so ein langsamer, absolut tragischer Weltuntergang, ganz leise und so schmerzhaft, dass wir uns vielleicht nie davon erholen. Oder unsere Freunde wanderten alle weg. Oder wir würden unschuldig angeklagt.“
„Pauline, ich muss jetzt ins Büro. Versprich mir, dass wir heute Abend im selben Bett schlafen, ja? Ich habe so ein Gefühl in der Brust.“
„Ich verspreche es dir, du bester Christoph Flachmüller in meiner Welt. Aber erst gehe ich eine Fahrradklingel kaufen“, sagt Pauline.
Der Mann mit der grauen Aufschrift auf schwarzem Grund welt unter steigt vor Chriesi aus.
„Entschuldigen sie bitte“, sagt Chriesi.
„Ja?“ sagt der Mann und grinst.
„Haben sie Näheres über das mögliche Zusammenkrachen des Hauptbahnhofs gehört?“ fragt Chriesi.
„Ach, irgendwo auf einer Baustelle ist etwas eingestürzt und nun ist eine Wand unter dem Bahnhofplatz nicht mehr gestützt. Die kriegen das schon in den Griff“, erklärt der Mann.
„Danke. Ich wünsche ihnen einen schönen Tag“, sagt Chriesi, steckt beide Hände in die Hosentaschen und geht pfeifend ins Büro.