Wieso hab ich Malte damals nicht geküsst? Damals, als wir nachts um drei vor unseren Zimmern sassen. So oft hab ich mich das gefragt. Es war Zufall, dass wir nebeneinander einquartiert wurden, bei dieser halboffiziellen Tagung, zu der wir beide zu spät angereist sind, zwei kleine Zimmer im Dach, Dusche und WC auf dem Gang. Anderthalb Stunden haben wir vor diesen Zimmern auf dem Fussboden gesessen, Schulter an Schulter. Sehr betrunken waren wir nicht. Ich weiss genau, weswegen ich Malte damals nicht geküsst habe. Wegen Reto. Den ich zwei Jahre später verlassen habe, als Malte längst in Potsdam war und wir keinen Kontakt mehr hatten.
Und jetzt sitzt er da, mit Bart und schulterlangen Haaren, unverändert sonst, jetzt sitzt er da auf einmal, am Ostersonntagmittag, in der Uetlibergbahn. Das ist doch verrückt. Wie die Bahnen in Ringlikon nebeneinander stehen, da, wo immer eine auf die andere warten muss. Und wie Malte und ich genau auf gleicher Höhe sitzen. Zwischen uns nur zwei Glasscheiben und ein bisschen Luft. Wenn er nicht geklopft hätte. Vielleicht hätte ich ihn gar nicht gesehen. Er hält seine Hand gegen die Scheibe. Und wir lachen uns an und machen Zeichen. Und dann fährt seine Bahn schon los, fährt weiter, und ich lauf noch mit, nach hinten. Er macht immer noch Zeichen. Und dann ist er weg.
Das ist doch verrückt. Ich fahre sonst nie mit der Bahn auf den Uetliberg. Nie. Ich gehe immer zu Fuss hoch, auf einem der unzähligen Wege, die zum Gipfel führen. Und nie, seit der Trennung von Reto, bin ich am Ostersonntag in Zürich gewesen. Verrückt. Dieser heftige Wind und der Schnee und die Sonne gleichzeitig. Und ich bin ausnahmsweise mit der Bahn hochgefahren, weil ich endlich einmal zur Felsenegg rüberspazieren wollte.
Um mich herum sprechen sie in vier Sprachen durcheinander, ein riesiger weisser Hund bellt, ein Kind schreit den Hund an. Und ich würde so gern auch schreien. Dass alle mal ruhig sein sollen, weil ich nachdenken müsse. Weil ich jetzt erstmal verstehen muss, was eigentlich passiert ist. Was ich jetzt machen soll. Ohne Handy. Ohne Kontaktdaten. Überhaupt.
Er hat sich gefreut, das war eindeutig. Wir haben uns beide so gefreut. Als wir noch zusammen gearbeitet haben, war nie etwas eindeutig. Einmal hat er mich gefragt, ob ich ihn nicht heiraten könne, er wolle Schweizer werden. Da hatte gerade die Mediendebatte begonnen, über die Deutschen und die Schweizer und ihr Verhältnis zueinander. Ich hab gesagt, Vielehe sei in der Schweiz leider verboten. Ein paar Wochen später stand auf den Verkaufsboxen vom Tagi: Schnappen uns die deutschen Männer die Frauen weg? Und wir haben uns gemeinsam darüber aufgeregt. Und dann im Artikel gelesen, dass das Umgekehrte oft vorkomme. Die Schweizer Frauen hingegen seien an deutschen Männern nicht interessiert, die seien ihnen zu forsch. Ob das stimme, wollte er wissen. „Du bist doch nicht forsch“, hab ich gesagt. Expliziter waren wir nie. Sonst nur Blicke, zufällige Berührungen, heftige Wortwechsel in den wöchentlichen Sitzungen, ein langsamer Walzer, den wir viel zu eng getanzt haben – und die Nacht, als wir vor den Zimmern sassen.
Die Türen öffnen sich, wir sind an der Endhaltestelle, der weisse Hund drängt zum Ausgang. Und hinter ihm alle anderen auch. Nur ich bleibe sitzen. Bleibe einfach auf meinem Platz sitzen und denke nach, versuche nachzudenken, Zeit habe ich ja genug. Es dauert ewig, bis sich diese Bahn wieder in Bewegung setzt. Und dann die ganze Strecke wieder zurück. Wieder vorbei an all den heruntergefallenen Ästen, den frisch oder lange schon umgebrochenen Bäumen. Von Lothar oder von Niklas. Sturm ist mir auch im Kopf. Ich werde dieses Jahr fünfundvierzig. Ich bin ordentliche Professorin der Linguistik, in der Ethik-Kommission der Gesellschaft für Sprachwissenschaft. Und da schau ich in diesen Wald und frage mich, warum Stürme nie Reto oder Regula heissen, warum sie immer so nordische Namen haben. Und hoffe inständig, dass Malte in Uitikon wartet.
Wir halten in Ringlikon. Halten genau da, wo vorher die Bahn stand, in der Malte sass. Wir stehen und stehen. Und ich denk immer noch bloss, hoffentlich wartet er. Und dann kommt endlich die Bahn von unten. Und wir fahren los. Und ich sehe ihn. Ich sehe ihn in dieser Bahn. Die genau da steht, wo vorher die Bahn stand, in der ich sass.
Und meine Bahn fährt schon, langsam noch. Und dann – ich steh ja schon neben der Tür – dann zieh ich die Notbremse. Ich zieh einfach an dieser Notbremse. Und die Bahn bleibt tatsächlich sofort stehen. Die Leute um mich herum schwanken ein bisschen, ganz wenig nur, weil wir so langsam waren. Eine ältere Dame mit Teleskopstöcken fragt, ob mir nicht wohl sei. Ein dunkelhäutiger Mann mit Kinderwagen sagt auf Englisch, er sei Arzt. Die anderen schauen nur. Und dann öffnet sich tatsächlich die Tür.
Und davor stehen Malte und der Zugführer. Und Malte sieht mich an, mit einem Blick, so heftig, es fühlt sich an wie eine Berührung. Während der Zugführer, ein freundlicher Mann mit Brille und Schnurrbart, mich um meine Personalien bittet. So etwas sei noch nie passiert, sagt der Mann, auf dieser Strecke, noch nie. Malte lächelt, der Mann schreibt meinen Namen. „Eine Strafe gibt das schon“, sagt er, „da ist nichts zu machen, auch wenn es ein Versehen war.“ Ich lächle ihn an. Und er geht zur Notbremse, löst sie wieder, damit man weiterfahren kann, das sei jetzt schon ein Problem, mit dem Takt, sagt er noch und wünscht uns dann schöne Ostern.
Wir steigen nicht wieder ein. Wir setzen uns ins Wartehäuschen. Malte nimmt meine Hand, und bevor er noch was sagen kann, sage ich, dass ich nicht mehr mit Reto verheiratet bin. Sofort sage ich das, damit ich es ihm auf jeden Fall sage. Und dass ich ihn jetzt heiraten könne, wenn er noch Schweizer werden wolle. Er wisse schon, was ich meine. Und er springt auf. Setzt sich wieder hin. Nimmt wieder meine Hand. Tritt mit dem Fuss gegen seine Tasche. Broschüren rutschen heraus, ich sehe Blumen und Torten. Und dann erklärt er mir, mit brüchiger Stimme, was er da oben auf dem Uetliberg gemacht hat. Dass er sich den ganzen Morgen Räume, Menüpläne und Dekovorschläge hat zeigen lassen. Für seine Hochzeit. Mit Giovanna. Die bei ihren Grosseltern in Stans sei. Die gar nicht wisse, dass er noch hier ist, noch nicht auf dem Heimweg nach Potsdam. Er habe sie überraschen wollen, mit dem Uetliberg, den möge sie so. Aber jetzt, sagt er, jetzt könne er, wenn überhaupt, sicher nicht mehr dort oben heiraten. „Unmöglich", sagt er.
Und wir sitzen da. Es windet und schneit und gleichzeitig scheint die Sonne. Und irgendwann kommt wieder die Bahn vorbei, und der Zugführer winkt. Und wir reden und reden, wir erzählen uns, was wir wann jeweils gedacht und gefühlt haben, in der Mensa, auf der Institutsfeier, in der Nacht vor den Zimmern. „Ich hätte nie den ersten Schritt machen können“, sagt er. „Wegen deinem Mann.“ Und dann schweigen wir eine Weile, halten immer noch unsere Hände, und ich sage: „Natürlich. Natürlich nicht.“ Und er fragt, wieso ich mich denn getrennt habe, und ich frage ihn, wieso er heiraten will. Und dann erzählen wir uns alles, beinahe alles, was passiert ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und irgendwann fahren wir runter, und ich bringe ihn an seinen Nachtzug, und dann küssen wir uns, küssen wir uns doch noch, so lange, bis wir das Pfeifen hören.
Und dann steigt er ein. Er steigt ein. Und die Tür schliesst sich. Aber er hält wieder die Hand gegen die Scheibe. Und ich halte meine dagegen. Dazwischen nur Glas. Und ich sehe die Notbremsen im Liegewagen vor mir, einmal habe ich mich beinahe an einer festgehalten, weil sie gleich neben der Leiter hängt. Ganz leicht kann das passieren.
Erstmals erschienen in der ZVV-Jubiläumsbeilage zum Tagesanzeiger vom 19.5.2015