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Ulrike Ulrich

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*1968 in Düsseldorf.

Seit 2002 in der Schweiz, schreibt Romane, Kurzprosa, selten Lyrik, mitunter Kolumnen und mit Begeisterung Monologe.

Werkauswahl

Uetliberg hell

Die Töchter und das gute Geld

Im Hintergrund

Risikogruppe

NZ 301 ab Köln Hbf

Der Hund ist tot

Totale Phase

fern bleiben in NYC

Hinter den Augen bei Sprachsalz


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Risikogruppe

 

Das muss die Strafe sein. So haben wir es doch gelernt: die kleinen Sünden sofort. Und wenn nicht sofort was passiert, dann war es eine große Sünde. Dann gnade dir Gott.

Hallo! – Ja! Im Aufzug. Im Aufzug des Bürohauses Walterstraße 79. Zwischen dem 5. und dem 6. Stock. – Wie bitte? – Nein. Ich habe keine Klaustrophobie, ich habe ein Bewer­bungs­gespräch. In zehn Minuten. Ja. Natürlich. Ich warte.

Ob das schon ein Test ist? Über­durch­schnitt­lich belastbar haben sie in der Ausschreibung geschrieben. Und die Frau im Lautsprecher gehört dazu. Nein. Das ist paranoid. Typische Betrüger-Paranoia. Die Frau will mir helfen. Sie ist wirklich so freundlich. Vielleicht suchen sie die Angestellten nach ihren Stimmen aus. Vertrauen­erweckend. Ich hatte natürlich mit einem älteren Mann gerechnet. Und da wundere ich mich. Aber ich wundere mich gar nicht. Meine innere Gleichstellungsbeauftragte ist burnout-gefährdet.

Ja. Ich höre Sie. Was? Eine halbe Stunde. Das geht nicht. Ich habe doch das Gespräch. Warten Sie … Könnten Sie? Würden Sie mir einen Gefallen tun. Bei der Agentur Licht­blick anrufen. Hier im Haus. Könnten Sie denen sagen, dass die Person, die zum Bewer­bungs­gespräch kommen sollte, Jo Lohmann, könnten Sie bitte sagen, dass die im Aufzug hängt? Und bitte: Sagen Sie nicht Frau. Sagen Sie bitte Person! Oder einfach den Namen. – Danke. Danke, das ist sehr nett von Ihnen.

Ich habe auch eine angenehme Stimme. Ich könnte das auch, Leute im Aufzug beruhigen, Leute im Aufzug vertrösten, ihnen gut zureden, während sie in der Luft hängen. Ganz im Gegensatz zu meinem Arbeitslosenberater. Der das nicht hätte sagen sollen. Risiko­gruppe hätte er nicht sagen sollen. Das war ein Fehler. Ein Fehler, den er ja selbst bemerkt hat. Sich gleich verbessert. Stattdessen besonders förderungsbedürftig gesagt. Aber Wörter, die mit bedürftig enden. Nicht gut. Kommen in der Werbung praktisch nicht vor. Und hängen geblieben ist natürlich dieses beschissene Wort Risikogruppe. So wie: anfällig für Herzanfälle. Oder sich selbst durch ungewöhnliche Sexualpraktiken gefährdend. Andererseits heißt es ja nicht umsonst Arbeits­losen­versicherung. Bei der Versicherung denken die Leute so. Für die gehöre ich zur Risikogruppe. Schwer zu vermit­teln. Steigendes Risiko für Langzeit­arbeitslosig­keit. Steigendes Risiko für steigende Kosten. Ab Vierzig wird es ja überhaupt schwieriger mit den Versiche­rungen. Ich wäre jedenfalls nicht hier, wenn dieses Wort nicht gefallen wäre. Und jetzt muss ich es durch­ziehen. Ich sehe immerhin … Immer­hin sehe ich jung aus für mein Alter. Und diese Ampullenkur. Die hat auch etwas genützt. Vor allem da um die Augen. Oder liegt es am Licht? An diesem goldgelben Liftlicht. Bloß wenn sie meinen Ausweis sehen wollen. Was aber absurd wäre. Wieso sollten die meinen Ausweis sehen wollen? Ich werde heute den Eignungs­test machen. Unter Zeitdruck Aufgaben lösen. Das liegt mir. Sie werden mich zu diesem Test zulassen. So weit bin ich gekommen. Und es ist doch nur gerecht. Wobei: Gerecht wäre wahr­scheinlich nur losen. Ich denke, man sollte losen, bei der Auswahl der Bewerbungen. Dann wäre wenigstens bis dahin Chancen­gleichheit. Beim Gespräch haben es natürlich die Gewinnenden mit den angenehmen Stimmen leichter. Da müsste das Losglück schon aus­schließlich intro­vertierte Menschen mit Sprach­fehler treffen, dass dann auch wirklich einer von denen den Job bekommt. Ich habe ja Glück. Wenn ich einmal da bin, dann habe ich gute Chancen. Sie können froh sein, dass ich sie betrogen habe, sonst würden sie mich gar nicht kennen lernen. Es gibt natürlich auch Leute, die niemals Losglück haben. Oder ist das ein Wahr­nehmungsproblem? Denken das diese Leute nur selbst?

Ja. Danke. – Einen Mann. Aber Sie haben das nicht richtig gestellt, oder? Sie hatten mir doch. – Danke. Vielen Dank. Wissen Sie. Mein Name. Ich habe Jo geschrieben statt Johanna, im Lebenslauf. Es ist keine Lüge. Mein Vater nennt mich zum Beispiel so: Jo. Und nun haben die mich tatsächlich eingeladen und erwarten einen Mann von 30, der Jo heißt.

Mein Vater hatte auch ein bisschen mit einem Jungen gerechnet.Beim vierten Kind. Aber so ist das eben mit der Wahrscheinlichkeit. Dann doch wieder 50/50. –

Und ich habe sogar den Geburtstag geändert. Haben Sie nicht auch gleich ein Bild, wenn Sie Krebs hören? – Nein, nicht unsympathisch. Das stimmt. Aber erstens klingt Krebs schon schlecht. Und dann denken die Leute immer ans Rückwärtsgehen. Was gar nicht zutrifft. Krebse gehen seitwärts. Und nur weil sie die Augen nicht nach vorn richten, heißt das nicht, dass sie kein Ziel hätten. Ihr Ziel liegt eben rechts oder links von ihnen. – Ja, da haben Sie Recht. Letztlich nützt es gar nichts, dass man es besser weiß. In der Werbung schon gar nicht. Oder man muss es aufbauen. Behaupten. Den ziel­gerichteten Krebs etablieren. Aber dazu hat man in einem Lebenslauf keine Chance. Erst recht nicht, wenn es heißt: Wir bitten von originellen Lösungen abzusehen. – Wirklich? Auf einen Slip? Das muss ein kurzer Lebens­lauf gewesen sein. Und hat sie den Job bekommen? – Ach so. Ja. Damals war sowas noch möglich. – Aber klar, Frau Widmer. Gern. Machen Sie Druck. Ich bin sehr froh, dass Sie sich so kümmern.

Mit einem Slip. Das ist krass, aber eben: Das war in den Neunzigern. Beim Privat­fernsehen. Heute. Heute muss man schon. Muss man sich schon als Waage ausgegeben. Da denken die Leute: kreativ und ausgeglichen. Was Unsinn ist. Das liegt nur daran, dass die Leute in Bildern denken. Wie Bilder uns prägen. Wenn Waagen nicht immer im Gleichgewicht abge­bildet würden, sondern mit einer Schale am Boden oder gar in Bewegung, animiert, dann kämen die Leute nicht auf so eine Idee. – Aber sonst. Es ist ja nicht alles gelogen. Es stehen keine falschen Stationen drin. Ich habe nur Unwesentliches ausgelassen. Wenn man die Highlights von 20 Jahren auf 10 verteilt, sieht alles schon völlig anders aus. Auch der Verdacht der Sprung­haftig­keit entsteht nicht so schnell, wenn man ein paar Stellen streicht. Mobil, aber nicht sprunghaft. Welcher Konzern war das noch? Da muss bei Leuten, die sich für eine Stelle im Ausland bewerben, auch noch der Ehepartner, meist die Ehe­partnerin, zu einem Gespräch erscheinen. Weil der oder die sich auch als umzugs­willig und anpassungs­fähig erweisen muss. Da nützt die ganze Mobilität nicht, wenn nachher die maulende Ehepartnerin wieder zurück will. Ich bin tatsächlich mobil. Nicht sprunghaft. Und doch ist es Betrug. Letztendlich ist es Betrug. So eine Werbefirma hat dafür vielleicht noch Verständnis. Aber mein Berater. Der darf es nicht erfahren. Bis jetzt hat er mich für korrekt und besonnen gehalten. Bis jetzt hat er sich über mein Risiko Gedanken gemacht. Und sich nicht gewundert, dass die Frau seit vier Monaten nicht eingeladen wird. Seit vier Monaten immer Briefe lesen muss, die mit alles Gute für Ihre Zukunft enden. Aber wenn es schief geht und er davon erfährt … Firmen können das. Die können Chiffre­anzeigen schalten. Die können die wildesten Dinge in die Stellen­beschrei­bung packen. Keine Ahnung, ob man da jemand belangen könnte, wenn nichts davon wahr ist. Wenn nachher das Pflichten­heft ganz anders aussieht. Ob man da sagen könnte: Vor­täu­schung falscher Tatsachen. Sie haben mir Zeit und Hoffnung geraubt. Oder auch nur, wenn da freundliches, gut eingespieltes Team steht und nachher trifft man auf einen Haufen missgünstiger Einzelkämpfer. Bevor man zu einem Gespräch kommt, weiß man doch eigentlich nichts. Abgesehen vom Internetauftritt. Wenn die von der Agentur mich gegoogelt haben, haben sie unter Jo Lohmann nichts gefunden. Das hätte sie misstrauisch machen können.

Allerdings bin ich noch da, Frau Widmer. Sie sind sicher die mit Abstand lustigste Mitarbeiterin der Notrufzentrale. – Ach, kein Problem. Jetzt wo die da oben Bescheid wissen, kommt es auf fünf Minuten mehr oder weniger auch nicht an. Darf ich Sie etwas fragen? Wo wir nun mal hier warten. Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind? Und seit wann Sie den Job haben? – Wirklich? Ich hatte Sie viel jünger geschätzt. War das schwierig? – Ach, das ist schön. Und gefällt Ihnen der Job? Aber Sie sehen die Leute nicht. Haben Sie schon einmal jemanden getroffen, nachher? Dem Sie da raus geholfen haben. Würde ich wahrscheinlich auch nicht machen. Der müsste mir schon sehr sympathisch sein. Aber was weiß man schon. Wobei Sie sicher eine besondere Sensibilität für Stim­men entwickelt haben. – Danke. Das ist nett. Ja. Das sagt mir immer mal wieder jemand. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, es beruflich zu nutzen. Aber was kann man damit machen? Vorlesen? Anrufe weiterleiten? Straßenbahnstationen ansagen? Sie haben bestimmt eine technische Ausbildung. – Ach so, wirklich. Das ist spannend. Quereinsteigerin. – Selbstverständlich, Frau Widmer. Ich setze mich mal auf den Boden so lange. Der Teppich macht einen sehr sauberen Eindruck.

Bloß ist es so heiß hier und meine Frisur ist irgendwie zusammengefallen. Man sollte vor einem Bewerbungs­gespräch nicht in den Spiegel sehen. Eigentlich sollte man auch nicht am selben Tag zum Friseur gehen. Und dann aussehen, als ob man vom Friseur kommt. Oder sich zumindest nicht die Haare raufen und dann aussehen, als käme man vom Friseur und hätte anschlie­ßend diesen Eindruck unbedingt zu zer­stören versucht. Die Sache ist die: Sie hätten mir diesen Test doch einfach nach Hause schicken sollen. Meinet­wegen hätte ich ihn auch beim Notar gemacht. Dann hätten sie gewusst, was ich kann. Dann hätten sie sich ein Bild von mir und meinen Fähigkeiten machen können. Den Test hätten sie noch gelesen, ohne zu wissen, dass ich eine Frau bin, vierzig, Deutsche. Wobei das ja noch harmlos ist, dass ich meine Herkunft unter­schlagen habe. Einfach nicht genannt. Ich kann behaupten, dass ich nicht wüsste, was Heimatort bedeutet. Beinahe hätte ich Schwedisch geschrieben. Einmal eine sympathische Nationa­lität haben. Anderer­seits gibt es Menschen, die keine haben. Oder eine viel schwierigere. Im Grunde sollte das auch nicht erfragt werden. Auch die Mutter­sprache nicht. Es sollte reichen, dass man schreibt, welche Sprachen man wie gut beherrscht. Und wenn man eine weglassen will. Bitte. Das müsste auch okay sein. Ich habe gelesen, dass Secondos und Secondas jetzt ihre Nachnamen ändern dürfen, helve­tisieren, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Vielleicht könnte ich das in einem allfälligen Verfahren anführen, als eine Art Parallele. Falls es so weit kommt.

Hallo, Frau Widmer, danke. Ach, dann ist es ja gleich so weit. Setzt sich der Korb von selbst in Bewegung? Ich würde gern im nächst­möglichen Stock aus­steigen, zu Fuß weiter. Ich weiß jetzt grad gar nicht, ob ich hoch oder runter gehen soll. Sie wissen schon. Ich meine, wenn die nun keinen Humor haben. Auch wenn sie mit »Lichtblick in der Krise« werben. Andererseits: Jetzt bin ich schon mal hier. Wenn es schief geht, dann geht es halt schief. Dann kann ich die Geschichte immer noch an eine Zeitung verkaufen. – Was meinen Sie? Wirklich? Das wäre nett. Dann hätte ich einen Plan B. Aber glauben Sie nicht, dass ich dafür zu alt wäre? – Doch. Sie haben Recht. Kontaktfreudig bin ich. Wird ihr Bruder das nicht komisch finden? – Okay, ja, hab ich. Punkt-ch haben Sie gesagt, oder? Genau, und Ihre auch. Ich schreibe Ihnen dann, wie es gelaufen ist. Frau Widmer. Jetzt. Jetzt bewegt er sich.